Test auf Ausreißer und Ermittlung neuer Vorgabewerte

Fragen, die sich auf kein spezielles Verfahren beziehen.

Test auf Ausreißer und Ermittlung neuer Vorgabewerte

Beitragvon MAD3000 » Do 18. Feb 2021, 22:38

Hallo zusammen,

vielleicht einmal kurz zu meinem Hintergrund: Ich bin Maschinenbautechniker mit REFA Zusatzqualifikation und aktuell dabei bei meinem Arbeitgeber ein Tool zur systemischen Anpassung der Vorgabezeiten zu entwickeln.

In unserem Unternehmen haben wir eine variantenreiche Fertigung. Sprich, niedrige Stückzahlen, hohe Varianz. Es kann sein, dass Artikel mehrmals laufen, aber auch teilweise nur einmalig produziert werden. Es werden Teile für den Maschinenbau aus diversen Werkstoffen in verschiedensten Größen (von wenigen mm bis hin zu mehreren m) produziert. Die Vorgabezeiten werden mittels diverser Tools ermittelt. CAD CAM (Ermittlung der Vorgabezeit aus CAD Daten mittels Bearbeitungssimulation) gibt es nicht und ist aus aktueller Sicht auch nicht sinnvoll/gewollt. Wir fertigen pro Jahr ca. 8000 Auftragspositionen mit verschiedensten Stückzahlen und unterschiedlichster Komplexität. Die verkauften Produkte bestehen i.d.R. aus 6 Eigenfertigungsbaugruppen mit unterschiedlichsten Arbeitsgängen und Materialien.

Wir waren bis vor ein paar Jahren sehr "werkstattgetrieben", bis dann ein neues ERP System eingeführt wurde. Mit dem damaligen ERP System wurde nicht so gearbeitet, wie man eigentlich mit einem ERP System arbeiten muss. Nun können wir auch Auswertungen fahren, die vor dem neuen ERP System nicht möglich gewesen wären. Ein großer Punkt für meinen Bereich ist Auswertung der Ist zu Soll Zeiten und der damit verbundenen Analyse und ggf. Korrektur der Vorgabezeiten.

Vor über 10 Jahren habe ich meinen REFA Grundschein sowie den REFA Prozessorganisator gemacht. Lange ist's her …
Aber letztendlich muss man ja nicht alles wissen, nur wo es steht.

Ich habe nun meine alten Unterlagen wieder rausgekramt und ein wenig durchforstet, sehe bei uns aber aktuell 2 Probleme:
1. Niedrige Anzahl an wiederholt gefertigten Artikeln (Anzahl der gemeldeten Zeiten oft < 10 pro Artikelnummer)
2. Teilweise eine große Spannweite der gemeldeten Zeiten innerhalb eines Artikels (die Gründe sind vielfältig und werden aktuell angegangen).

Es gibt einige Artikel die oft gefertigt werden, aber die stellen wirklich die Ausnahme dar.

Meine Idee ist es Mittels Test auf Ausreißer auf Artikelnummerbasis diese zu eliminieren um dann am Ende aus den verbliebenen Einzelzeiten die neue Vorgabezeit zu ermitteln, je nachdem, wie groß das Streumaß ist. Jetzt kommen aber die genannten 2 Probleme zum Tragen, woraus sich dann am Ende wahrscheinlich keine adäquate Vorgabezeit ermitteln lässt.

Jetzt kann man sagen, vergiss es, so kann man keine verlässliche Vorgabezeit ermitteln, aber irgendwie muss man ja anfangen, auch wenn die Datenbasis klein ist.

Ich stehe momentan in der Diskussion mit einem Kollegen zu den Themen Ausreißer und der Datenbasis.

Er ist der Meinung, dass man den Test auf Ausreißer auf die Datenbasis nicht ausführen kann/darf, sondern die oberen und unteren 10% der Datenbasis abschneidet und mit den dann verbliebenen Werten in die Ermittlung der Vorgabezeit geht.

Ich sehe das anders, denn wenn ich das pauschal mache und meine Datenbasis rechts oder linksverteilt ist, dann werfe ich zumindest an einer Seite einen großen Teil meiner Daten weg. So ein Vorgehen ist mir auch nicht bekannt und kenne diese Thematik nur aus der Excel Funktion „GESTUTZTMITTEL“.

Des Weiteren sind wir uns nicht einig zu dem Teil der Datenbasis. Ich meine aus meiner damaligen Zeit mitgenommen zu haben, dass unter 5 Datensätzen eine Auswertung nicht möglich ist. Mein Kollege sagt, dass es mindestens 50 sein müssen, wodurch in meinem Fall aber sehr viele Artikel durch das Raster fallen würden.

Selbst wenn ich falsch liege und es 50 sein müssen (ist das wirklich so?), so bin ich der Meinung, dass man auch mit einer geringen Anzahl an Datensätzen in meinem konkreten Fall eine zumindest halbwegs gute Vorgabezeit ermitteln kann.

Ich weiß, dass das Problem sehr spezifisch ist und REFA auch eher für die Serienproduktion gedacht ist, aber meine Idee ist die Methoden so gut es geht zu adaptieren, damit man in unserer variantenreichen Produktion bessere Vorgabezeiten ermitteln kann.

Ich würde gerne eure Meinungen dazu hören und wenn etwas nicht ganz verständlich ist, dann kann ich gerne mehr Input liefern.

Viele Grüße
MAD3000
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Re: Test auf Ausreißer und Ermittlung neuer Vorgabewerte

Beitragvon PonderStibbons » Do 18. Feb 2021, 23:20

Ich denke, alle genannten Argumente haben eine gewisse Berechtigung. Allerdings weiß ich nicht,
ob man bei Produktionszeiten sinnvollerweise sowohl die obersten als auch die untersten 10% abziehen
kann. Das Problem werden doch wohl die Ausreißer nach oben sein?

Kann man die Verteilungsform die Produktionszeiten charakterisieren, z.B. lognormal? Ausreißerkriterien
für kleine Stichproben benötigen meines Wissens alle einen Annahme über die zugrundeliegende
Verteilung.

Mit freundlichen Grüßen

PonderStibbons
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Re: Test auf Ausreißer und Ermittlung neuer Vorgabewerte

Beitragvon bele » Fr 19. Feb 2021, 09:20

Hallo MAD3000,

in meinen Ohren klingt das zu statistikverliebt. Für mich klingt das so, als müsste man an die Werkbank gehen und schauen, wo die Ausreißer herkommen. Sind das alles ungenehmigte Zigarettenpausen oder kommt es tatsächlich in einem gewissen Anteil der Fälle vor, dass es so lange dauert. Das hätte einen enormen Einfluss auf meinen Umgang mit Ausreißern. Dann wird es doch wahrscheinlich einen alten Vorarbeiter geben, dem man ein gewisses Vertrauen entgegen bringt, wenn er sagt: "Für so ein Teil braucht man in der Regel 15 Minuten, keines falls mehr als 20." Dann gibt es doch anscheinend ganz viel Erfahrung mit kleinen Teilen, großen Teilen, Dünnblech und Panzerungsstahl. Da wird man vielleicht mit geeigneten Maßen durch Regression eine Vorhersage treffen können, wie lange ein neues Teil braucht. Gerade wenn nur wenig Beobachtungen zur Verfügung stehen muss die Bedeutung solcher anderer Quellen wachsen.

Ich empfehle Dir dazu mal ein Youtube-Video, in dem Rasmus Baath zeigt, wie man aus extrem wenig Ausgangsdaten mit einigen vernünftigen Zusatzannahmen trotzdem begründete Vorhersagen treffen kann. Ist keine konkrete Hilfe für Dein Projekt, ist aber ganz unterhaltsam und richtet vielleicht den Blick etwas out-of-the-box bzw. macht den Kopf etwas frei von tradierten Annahmen, wieviele Beobachtungen man braucht, um etwas schätzen zu können: https://youtu.be/nKCT-Cdk0xY

Um das ganze dann wieder auf ein formalisiertes Umfeld zum Rechnen herunterzubrechen: Die sogeannte Bayes-Statistik bietet das mathematische Rüstzeug, um Vorinformationen (sog. "Prior"), wie etwa die Einschätzung eines Vorarbeiters oder eines aus Altdaten erstellten Regressionsmodells mit konkreten Beobachtungen sinnvoll zu verrechnen, sodass eine neue Schätzung ("Posterior") entsteht. Je stärker und konkreter die Vorannahme, umso weniger Daten braucht man. Je mehr Daten man hat, umso weniger Einfluss haben die Vorannahmen.

Ich hab natürlich keine Ahnung von Maschinenbau oder Management, aber vielleicht helfen Dir diese Gedanken ja trotzdem.
LG,
Bernhard
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Re: Test auf Ausreißer und Ermittlung neuer Vorgabewerte

Beitragvon MAD3000 » Mo 22. Feb 2021, 23:30

Hallo,

ich möchte mich schon mal für den Input bedanken.

PonderStibbons hat geschrieben:Ich denke, alle genannten Argumente haben eine gewisse Berechtigung. Allerdings weiß ich nicht,
ob man bei Produktionszeiten sinnvollerweise sowohl die obersten als auch die untersten 10% abziehen
kann. Das Problem werden doch wohl die Ausreißer nach oben sein?


Sowohl, als auch. Es wird natürlich gerne gesagt "die Vorgabezeiten sind zu niedrig", aber ich weiß, dass es auch Artikel gibt, bei denen das nicht der Fall ist.

PonderStibbons hat geschrieben:Kann man die Verteilungsform die Produktionszeiten charakterisieren, z.B. lognormal? Ausreißerkriterien
für kleine Stichproben benötigen meines Wissens alle einen Annahme über die zugrundeliegende
Verteilung.


Ich denke das könnte man schon. Ich muss dazu sagen, dass meine Kenntnisse in Statistik bei weitem nicht so gut sind, wie es hier bei den anderen der Fall ist, aber ich denke, dass ich das noch hinbekommen würde.

bele hat geschrieben:Für mich klingt das so, als müsste man an die Werkbank gehen und schauen, wo die Ausreißer herkommen. Sind das alles ungenehmigte Zigarettenpausen oder kommt es tatsächlich in einem gewissen Anteil der Fälle vor, dass es so lange dauert. Das hätte einen enormen Einfluss auf meinen Umgang mit Ausreißern. Dann wird es doch wahrscheinlich einen alten Vorarbeiter geben, dem man ein gewisses Vertrauen entgegen bringt, wenn er sagt: "Für so ein Teil braucht man in der Regel 15 Minuten, keines falls mehr als 20." Dann gibt es doch anscheinend ganz viel Erfahrung mit kleinen Teilen, großen Teilen, Dünnblech und Panzerungsstahl. Da wird man vielleicht mit geeigneten Maßen durch Regression eine Vorhersage treffen können, wie lange ein neues Teil braucht. Gerade wenn nur wenig Beobachtungen zur Verfügung stehen muss die Bedeutung solcher anderer Quellen wachsen.


Das ist eines der aktuellen Probleme. Wenn man dem Mitarbeiter schon im Vorfeld die Möglichkeit geben würde mitzugeben, warum ein Teil die Vorgabezeit um x Prozent überschritten hat und man das mitschreibt, dann wären wir schon einen ganzen Schritt weiter, weil man daraus auch ableiten kann, welche Probleme man angehen muss. Aktuell machen das bei uns die Vorarbeiter der Abteilung. Sprich, die Vorarbeiter bekommen eine Auswertung der Zeiten, die aus dem Ruder laufen und "schätzen" eine vermeintlich richtige Vorgabezeit. Das ist natürlich wahnsinnig zeitaufwändig. Sowohl die Kontrolle, wie auch das einpflegen. Daher auch die Idee mit dem Tool. Die Idee mit der Regression war auch schon da, allerdings ist die Varianz innerhalb des Bauteils selber so groß, dass das schwierig wird, da die Daten dafür leider nicht abgegriffen werden können.

bele hat geschrieben:Ich empfehle Dir dazu mal ein Youtube-Video, in dem Rasmus Baath zeigt, wie man aus extrem wenig Ausgangsdaten mit einigen vernünftigen Zusatzannahmen trotzdem begründete Vorhersagen treffen kann. Ist keine konkrete Hilfe für Dein Projekt, ist aber ganz unterhaltsam und richtet vielleicht den Blick etwas out-of-the-box bzw. macht den Kopf etwas frei von tradierten Annahmen, wieviele Beobachtungen man braucht, um etwas schätzen zu können: https://youtu.be/nKCT-Cdk0xY

Um das ganze dann wieder auf ein formalisiertes Umfeld zum Rechnen herunterzubrechen: Die sogeannte Bayes-Statistik bietet das mathematische Rüstzeug, um Vorinformationen (sog. "Prior"), wie etwa die Einschätzung eines Vorarbeiters oder eines aus Altdaten erstellten Regressionsmodells mit konkreten Beobachtungen sinnvoll zu verrechnen, sodass eine neue Schätzung ("Posterior") entsteht. Je stärker und konkreter die Vorannahme, umso weniger Daten braucht man. Je mehr Daten man hat, umso weniger Einfluss haben die Vorannahmen.

Ich hab natürlich keine Ahnung von Maschinenbau oder Management, aber vielleicht helfen Dir diese Gedanken ja trotzdem.


Vielen Dank für den Link. Wir haben zum Glück einen fähigen Mathematiker bei uns, der damit bestimmt was anfangen kann, denn über meinen Horizont geht das aktuell hinaus.
Aber tendenziell wäre das eine Möglichkeit, die herangezogen werden könnte. Unserem Problem kommt das auf jeden Fall sehr nahe.

Viele Grüße
MAD3000
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