Hallo Semson,
ich hab Dein posting schon früh gesehen, aber momentan sehr wenig Zeit um genau darauf einzugehen. Du stellst in der Tat interessante und zentrale Fragen:
a) Handelt es sich bei der formativen Variable um eine composite Variable oder ein formatives latentes Konstrukt.
Ich habe einiges an Literatur gelesen - allem vor an die special issues in Psychological methods (2007, Ausgabe 12) und Journal of Business Research (2008, 61).
Vor allem Howell, Wilcox und Breivik (in beiden special issues vertreten) weisen darauf hin, dass die Marketing Leute - allem voran Diamantopolous formative Konstrukte
immer als composites konzeptualsiert haben - während SEM-Umsetzungen, die Effekte sog. "kausaler Indikatoren" (ein misnomer!) als Ursachen des latenten Konstrukts vorsehen.
Dies lässt sich nur durch die mangelnde kausale Genauigkeit bei der Spezifikation erklären, die in den letzten Jahrzehnten im SEM-Bereich Einzug gehalten hat.
Die Implikationen eines formativen MODELLS sind aber:
a) Kausale Indiaktoren sind URSACHEN - nicht Bestandteile der latenten Variable, weil kausale Konzeptionen eine Unabhängigkeit von Ursache und Wirkungen implizeren.
Dies macht auch klar warum diese Variablen keine kausalen INDIKATOREN sind, sondern ganz normale Antezendenzen.
b) EIne latente Variable (wie jede Variable) ist eine singuläre / eindimensionale Entität und daher kann sie auch ganz normal über reflektive Indikatoren gemessen werden. Und damit wiederum ist sie
eine latente Variable wie jede andere auch.
c) Anstatt einen kausalen Effekt von kausalen INDIKATOREN (also Messungen z.B. in einem Fragebogen) zu konzeptualisieren (woraus folgt, dass Messungen zur latenten Variable führen) macht es meist
mehr Sinn, diese Indikatoren als messfehlerbehaftete Indikatoren von entsprechenden latenten Variablen zu sehen, die dann selbst die Effekte auf die latente Variable haben.
Beispiel für all diese Punkte könnte sein, dass die (latente) Bildung, das (latente) Einkommen und der (latente) berufliche Status den allgemeinen sozialen Status beeinflussen. Alle vier Variablen sind existierende Entitäten.
Der soziale Status wäre nicht einfach die Summe sondern die Folge dieser Ursachen. Er würde aber selbst und unabhängig von diesen Ursachen existieren (muss er auch, wenn er Wirkungen auf andere Variablen
haben muss).
Wie du siehst:
a) Man kann formative Variablen als simplen Index konzeptualsieren. Hier hat die Index-Variable keinen Existenzstatus, weil sie einfach aus den Facetten zusammengesetzt wurde.
b) Man kann formative Variablen als eigenständig existierende, latente Variablen sehen und postulieren, dass sie eine Folge der kausalen Antezedenzen (nicht Indikatoren) sind.
Und natürlich hast du recht, ich kann durch die Fixierung des Fehlerterms der latenten Variable die Index-Vorstellung in ein SEM übersetzen. Generell halte ich solche Modelle (d.h. mit oder ohne Fixierung) für schwierig, weil sie
zwar identifziert sein mögen (sofern man genug outcomes hat), aber deren Fehlerkovarianzen eigentlich geschätzt werden müssten, da man sonst unterstellt, dass die latente formative Variable einzige gemeinsame Ursache
der outcomes ist. Das ist ein Aspekt, den ich in der Literatur noch nie disktuiert gesehen habe...
Ich hoffe, dass ich so die wesentlichen Punkte abgedeckt habe
Grüße
Holger